Manche Wunder brauchen etwas Zeit

Wir wollen das große Wunder. Und das auch bitteschön sofort. Einen Lottogewinn, der uns aus allen finanziellen Schwierigkeiten herausholt. Den mega-Job, der uns unabhängig von anderen macht und in dem wir schalten und walten können, wie wir wollen. Dass sich Probleme einfach in Luft auflösen. Aber so funktioniert das nicht.

Einen Gipfel ersteigt man nicht dadurch, dass man im Tal darüber nachdenkt, wie schön es doch auf dem Gipfel sein könnte. Man muss seinen Hintern dort hoch bewegen. Und das ist anstrengend. Aber wie erhebend, wenn man oben steht und ins Tal herunterschauen kann, in dem Wissen, dass man sich selbst überwunden und „es“ geschafft hat. Wenn man aber gar nicht erst losgeht, dann kommt man auch nirgendwo an.

Nach einer Depression ist vieles nicht mehr wie früher. Aber ich bin weitergegangen. Habe das zu Ende geführt, was ich begonnen habe. Und habe Neues ausprobiert. Ich habe mich nicht stur an das gehalten, was ich immer gemacht habe, sondern habe etwas verändert. Vor allem mich habe ich verändert. Und die Methoden dieser Veränderungen gebe ich weiter. Mittlerweile habe ich viele Menschen gecoacht, damit auch sie ihre Ziele erreichen. Damit sie sich trauen, Neues zu wagen und sich auszuprobieren. Oder sich in Situationen zurechtfinden, die nicht so einfach zu verändern sind.

Wie es das Schicksal will stecke ich heute aber wieder in einer ziemlichen Herausforderung. Ich habe aufgrund vieler Empfehlungen Geld in Eigentum investiert. Aber dann kam der Krieg in der Ukraine. Vieles wurde teurer. So auch die vertraglich vereinbarten Renovierungsarbeiten. Seit fast zwei Jahren warte ich darauf, dass diese durchgeführt werden. Seit April erhalte ich kein Geld mehr, muss aber den aufgenommenen Kredit weiterbezahlen. Leerstand. Stillstand. Ohne Macht sein. Hingehalten werden. Ignoriert werden. Das macht eine ganze Menge mit mir. Ich spüre Angst davor, dass meine Ersparnisse nicht reichen. Ich spüre Wut, die ich irgendwie ausleben muss. Und es werden lange zurückliegende Kränkungen angetriggert.

Ich weiß aber aus Telefonaten mit dem Geschäftsführer des Unternehmens, dass es ihm in dieser Zeit auch nicht gerade gut geht. Dass er mit allen Kräften und weit darüber hinaus daran arbeitet, alles hinzubekommen. Und dass er versucht, die zugesagten Leistungen auch auszuführen. Aber alles auf einmal geht auch bei ihm nicht.

Was mache ich heute mit dieser verzwickten Situation? Wie gehe ich heute mit Kränkungen, mit Zurückweisung und mit Ignoranz um? Um das gleich zu sagen, das ist auch für mich nicht einfach. Aber ich nehme die Gefühle wahr, die bei mir entstehen. Die ich in Bezug auf die Versprechungen des Geschäftsführers fühle, die dann doch nicht eingehalten werden. Ich spüre mich. Das Magenbrennen. Die Übelkeit. Und ich bleibe mit mir in Kontakt, wenn mit ihm keiner möglich ist. Ich habe mich natürlich nach meinen Rechten erkundigt, aber der Rechtsweg zerstört meiner Meinung nach oft mehr, als dass er wirklich für Recht sorgt.

Und deshalb allem zum Trotz: ich lebe und arbeite weiter, vertraue darauf, dass sich doch noch alles regeln wird. Denke über Alternativen nach. Vor allem aber schaue ich ganz bewusst auf die „kleinen“ Wunder, die immer wieder geschehen, und ich genieße sie. Und ich sitze nicht nur rum und warte auf das große Wunder. Ich tue etwas. Und zwar das, was ich kann. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger.

  • Wie aus dem Nichts kommt die Anfrage der Gleichstellungsbeauftragten einer Stadtverwaltung, für ihre Mitarbeiter*innen einen Workshop zur Steigerung der Resilienz zu geben. Mittlerweile waren es drei Workshops, die ich dort gehalten habe. Folgende sind für nächstes Jahr geplant, ein Workshop bei einer Gemeindeverwaltung findet im Dezember statt und ich bin mit weiteren Gemeindeverwaltungen im Gespräch.
  • Ich arbeite mit einer Klinik-Management-Gesellschaft zusammen, um für ihre Kunden gute Lösungen in meinen Schwerpunktbereichen zu finden.
  • Nach meiner Anfrage bezüglich seines Buches entwickelt sich ein freundschaftlicher Austausch mit dem Autor. Einem erwachten und ganz wunderbaren Menschen. Ein Mensch, den ich sehr wertschätze und für dessen Da-Sein ich sehr dankbar bin.
  • Ich freue mich über einen gelungenen Workshop von mir in einer Klinik für Psychosomatik. Alle waren begeistert. Vor einigen Jahren war ich selber noch als Patientin in einer solchen Klinik. Und ja, ich gönne mir den Stolz, den ich spüre für das, was ich geschafft habe ☀️.
  • Ich arbeite zuhause an meinem Esstisch und entdecke während eines Blicks aus dem Fenster, dass nach einem heftigen Regenschauer die Sonne wieder scheint. Und dass die Tropfen, die in den Bäumen hängen, im Sonnenlicht um die Wette funkeln. Wie Diamanten, die jemand einzeln in die Zweige gehängt hat. Ich sitze da und schaue. Ich sitze da und bin. Ich sitze da und kann einfach nur ganz da sein.
  • Ich bestelle mir einen Beamer für meine Workshops, der schon gebraucht war, als er ankam. Ich schicke ihn zurück und möchte den gleichen noch einmal neu bestellen. Der ist nicht lieferbar. Ich warte. Als er nach ein paar Tagen wieder lieferbar ist, ist er 80 Euro günstiger als noch vor wenigen Tagen. Verrückte Welt…
  • Die People & Culture-Managerin eines Unternehmens, mit dem ich schon mehrfach zusammengearbeitet habe, meldet sich wieder bei mir und sagt, dass weitere knapp 50 ihrer Mitarbeiter*innen an meinen Achtsamkeitskursen teilnehmen möchten.
  • Während einer kurzen Rast an einer Tankstelle auf der Fahrt zu einem Treffen mit Freunden sprechen mich ein berühmter Kabarettist und ein Opernsänger darauf an, was für einen schönen Hund ich doch habe. Wir tauschen uns eine Zeit lang über unsere Erfahrungen aus, berühren uns mit unseren Herzen und fahren dann weiter, unseren jeweiligen Zielen entgegen.
  • Ich freue mich über die Gemeinsamkeit die entsteht, wenn man im Dunkeln bei Eiseskälte und im Regen an einer Ladestation an der A3 mit nur noch 10 km Ladekapazität gestrandet ist und nur eine von 6 Ladesäulen funktioniert. Kein Gerangel, wer zuerst dran ist, sondern die Hilfestellung, dass der, der gerade geladen hat, anschließend noch so lange wartet, bis das Laden beim Nächsten auch sicher funktioniert. Und dass jede*r nur so wenig lädt, um sicher bis zur nächsten Station zu kommen, damit die Nachfolgenden nicht so lange warten müssen…

Früher wären all diese wunderbaren Begegnungen an mir vorbeigerauscht in Anbetracht der großen Herausforderung. Heute lenke ich ganz bewusst meine Aufmerksamkeit auf die Dinge, für die ich dankbar bin. Ich bin dankbar für meinen Lebensgefährten, meinen durchgeknallten Hund, meine Freunde und Freundinnen, mit denen ich unsere Ängste, aber ganz besonders auch die schönen Dinge des Lebens teilen kann. Ich weiß sie wirklich tief zu schätzen und zu würdigen.

Wir haben verlernt, Geduld zu haben. Meiner Meinung nach einer der wesentlichen Pfeiler im Leben. Wir meinen, dass Großartiges sofort geschehen muss. Aber so tickt das Universum nicht. Die wichtigen Dinge brauchen Zeit, um zu reifen. Wir selber brauchen Zeit, um uns zu entwickeln. Ein Leben lang. Und wir brauchen Durchhaltevermögen und Mitgefühl. Mitgefühl für uns selber und mit anderen.

Ich bin sicher, dass der Geschäftsführer des Unternehmens daran arbeitet, für mich eine gute Lösung zu generieren. Auch, wenn es in meinen Augen verdammt lange dauert. Ich spüre die Unsicherheit, während ich das schreibe und wieder mal seit Tagen auf einen angekündigten Rückruf hoffe. Aber ich lasse mich nicht mehr von der Unsicherheit und der Angst um meine Zukunft unterkriegen.

Und während all dessen lerne ich Demut: vor denjenigen, die in Situationen stecken, die Geduld erfordern und manchmal auch dauerhaft nicht zu ändern sind. Vor Menschen, die Angehörige pflegen, die krank sind. Vor Menschen, die vor Kriegen fliehen müssen und vor den Menschen, die diese dabei unterstützen, in anderen Ländern eine neue Heimat zu finden. Ich lerne, den Umgang mit der Situation zu verändern. Lerne, meine Sicht auf die Dinge zu verändern, wenn ich schon die Umstände selber nicht ändern kann.

Ich bin sicher, dass ich genau da richtig bin, wo ich bin. In jedem einzelnen Moment bin ich einfach ganz da. Ich bin nicht erst „richtig“, wenn ich dort bin, wo ich hinwill. Wenn ich das habe, was ich haben möchte. Ziele zu haben ist gut. Ziele sind wichtig. Aber der Weg dahin, der ist das eigentliche Ziel, sagt LaoTse. Wir wachsen auf dem Weg zu unserem Ziel. Nicht erst, wenn wir am Ziel angekommen sind, sagt Ralph Waldo Emerson.

Ich hoffe, auch Du wächst und gehst weiter Deinen ganz eigenen Lebensweg. Ich wünsche Dir viel Geduld – auch auf Deinem Weg. Und wenn Du Begleitung brauchst: Du weißt, wo Du mich findest.

Mit herzlichen Grüßen

Petra Riemer

PS am 15.12.23: nach dem heutigen Telefonat mit dem Geschäftsführer der Gesellschaft sollen die Wohnungen ab Januar renoviert werden, so dass sie ab März bezugsfertig sein sollen. Das wäre ja mal ein schönes Weihnachtsgeschenk! Ich glaube an Wunder und dieses kann nach langer Zeit der Geduld und des Miteinanders trotz schwieriger Umstände doch noch endlich Wirklichkeit werden.