80 % reichen! Oder vielleicht doch nicht?

Wenn ich eine Arbeit abgeben soll, in die ich nicht mindestens 100 Prozent meiner Aufmerksamkeit gesteckt habe, dann gebe ich sie gar nicht erst ab. Häufig perfektioniere ich noch nach. Und dafür braucht es Zeit und Energie. Ich höre mir seit Jahren immer wieder an, dass ich doch nach dem sogenannten Pareto-Prinzip arbeiten soll.

Was ist da los, wenn man zu den Menschen gehört, die 80 von 100 Prozent als nicht vollständig ansehen? Denen eine Leistung von 80 Prozent nicht reicht? Die sich unwohl fühlen, wenn Sie nicht alles ganz genau machen?

Diejenigen, die die Meinung vertreten, dass 80 Prozent reichen, orientieren sich am sogenannten Pareto-Prinzip.

DAS PARETO-PRINZIP 
Der italienische Soziologe und Ökonom Vilfredo Frederico Pareto (1848 – 1923) hat seinerzeit herausgefunden, dass nur ca. 20 Prozent aller Familien über 80 Prozent des gesamten Volksvermögens in Italien verfügten. Es folgten im Laufe der Jahre eine Reihe von Studien, die dieses Prinzip immer wieder bestätigten.

Auch im Zeit- und Selbstmanagement fand dieses Prinzip als 80-zu-20-Regel seinen Einzug. Hier sagt es aus, dass sich 80 Prozent der zu erledigenden Aufgaben mit einem Mitteleinsatz von nur 20 Prozent erledigen lassen. Will man die restlichen, die noch verbleibenden 20 Prozent erledigen, also alles perfekt machen, braucht es einen erhöhten Aufwand von 80 Prozent.

Was mir persönlich an diesem Prinzip missfällt, sind drei Sachen:

  1. Wer sagt denn überhaupt, dass man etwas erreichen muss um glücklich und zufrieden leben zu können? Sind wirklich alle, die ständig versuchen, mehr zu haben, immer mehr zu erreichen, glücklich und zufrieden? Oder jammern wir alle auf einem gleichen Niveau, nur halt über andere Zahlen oder Umstände?
  2. Wir könnten den Eindruck gewinnen, dass wir für eine Sache oder Dienstleistung 100 Prozent zahlen müssen, für die aber nach diesem Prinzip nur 80 Prozent der möglichen Leistung erbracht wurden. Nicht so schön, dieser Gedanke …
  3. Und wenn wir aus irgendwelchen Gründen grundsätzlich eine sehr gute Leistung abgeben möchte?

Ich lade Dich dazu ein, einmal darüber nachzudenken …

Und JA, ich gehöre bekennender Weise zu den Perfektionistinnen dieser Welt und möchte grundsätzlich eine sehr gute Leistung bringen. Ich stehe dazu und ich bin froh darum. Ich kann gar nicht anders. Und die mich umgebenden Menschen wissen und schätzen das.

Als ich das erste Mal während meiner Arbeit an der Hochschule einen Termin zu einer Prüfungsaufsicht vergessen habe, hat meine Chefin sich wie verrückt gefreut, dass ich auch einmal nicht pünktlich war. Ich allerdings war völlig schockiert, weil ich den Termin vergessen hatte. Aber ich habe den Schock überlebt. Glücklicherweise war außer meiner Chefin noch eine andere Kollegin zur Aufsicht eingeteilt, so dass die Studierenden pünktlich ihre Klausur schreiben konnten. Was haben wir hinterher darüber gelacht, dass ich auch einmal etwas vergessen habe. Denn ich bin ja auch nur ein Mensch und die machen bekanntlicherweise alle mal einen Fehler. Und irgendwie hat uns diese Situation näher zusammengebracht. Ich habe gemerkt, dass es ok ist, wenn nicht immer alles nach Plan läuft. Wenn ich auch einmal etwas vergessen kann ohne dafür hinterher schwerwiegende Konsequenzen tragen zu müssen. Und für die anderen war ich nicht mehr Superwoman, die alles immer perfekt organisiert, sondern eine von ihnen. Auch das war eine gute Erfahrung.

Trotzdem, ich bleibe dabei! Ich will meine Arbeit gut machen. Und gut sind für mich 100 Prozent. Ich bin mir bewusst darüber, dass ich oft viel Zeit in Kleinigkeiten stecke. Wie in die Zeichnung für diesen Blog. Aber das Zeichnen hat mir Spaß gemacht.

So gehöre ich auch zu denen, denen eine aufgeräumte Wohnung ziemlich viel bedeutet. Nun ja, meistens jedenfalls ;-)) Weil für mich Klarheit in meiner Umgebung die Grundlage für meine innere Klarheit ist.

Wenn ich mir bewusst darüber bin, was ich mache, wie ich etwas mache und wann ich etwas mache, dann kann ich beginnen, etwas zu verändern. Ich muss mir also bewusst darüber werden, was ich wann wie mache. Ansonsten läuft alles auf Autopilot. Aber ich kann mich ganz bewusst immer wieder fragen „muss das, was ich da gerade mache, perfekt sein?“. Und wie definiere ich in diesem Fall die Perfektion?

Sagen wir mal, ich schreibe einen Text für meinen Blog. Den möchte ich natürlich auch perfekt machen. Aber wann ist er perfekt? Wer bestimmt, wann dieser Text perfekt ist?

Da kommen meine Persönlichkeitsanteile ins Spiel. Wenn ich beginne, diese ausfindig zu machen, dann tauchen verschiedene Anteile auf. Anteile, die sich teilweise heftig miteinander in den Haaren liegen. In Bezug auf diesen Blog-Text ist da ein Anteil in mir, der auf das Gaspedal drückt, dem nichts schnell genug geht, der will, dass der Text veröffentlicht wird. Einen zweiten Anteil gibt es, der immer wieder doch noch mal Korrektur liest, der ständig sagt „mach mal langsam“. Der sich lieber hier und dort noch Informationen holt, bevor etwas veröffentlicht wird. Und dann gibt es noch einen dritten Anteil, der an allem rummeckert und dem sowieso gar nichts gut genug ist, was ich mache. Ich kenne die drei Anteile. Und jeder ist für etwas anderes gut und wichtig.

Wie soll ich denn da zu einem (nur) 80prozentigen Ergebnis kommen, wenn es einen Anteil in mir gibt, der zwar Gas gibt, sich aber gegen zwei andere Anteile in mir behaupten muss? Das kann man sich so vorstellen, dass drei Leute in einem Boot sitzen, wovon zwei in eine Richtung rudern und der dritte in die andere Richtung… Da kann man sich ausmalen, wie viel Energie die zwei Anteile aufbringen müssen, um in ihre Richtung zu kommen und wie frustriert der einzelne Anteil ist, der auf der anderen Seite des Bootes sitzt hinterher nur noch als Ballast angesehen wird.

Wie schön wäre es, wenn alle Anteile in die gleiche Richtung rudern würden? Und genau das können wir erreichen, wenn wir uns die Anteile einmal genau anschauen. Grundsätzlich hat nämlich jeder Anteil seine Daseinsberechtigung. Und die sollten wir erst mal alle würdigen. Dabei lassen wir jeden Anteil zu Wort kommen und schauen, was für Bedürfnisse dahinterstecken. Denn alle Anteile in uns wollen grundsätzlich das gleiche: dass es uns gut geht! Und wir selbst, als Chef oder Chefin dieser Anteile, sind ja auch noch im Spiel! Wir können bestimmen, welchen Anteil wir bei welcher Situation wie viel reden oder wirken lassen. Wir können jedem Anteil versichern, dass er erwünscht ist und seine Meinung oder Arbeit zum Gelingen des Projektes auf jeden Fall gebraucht wird. Und auch die Größe der Anteile, die können wir festlegen. Wenn wir eine für die Situation passende Größenordnung bestimmen, sind es vielleicht nicht mehr zwei Drittel gegen ein Drittel, sondern nur noch 9 Zehntel gegen ein Zehntel. Und das eine Zehntel wird auch gebraucht, damit das Projekt gut wird! Und das können wir für jede Situation neu entscheiden. Denn vielleicht braucht es ja beim nächsten Blog-Text andere Anteile und Prioritäten.

Ich persönlich bin nicht bereit dazu, nach einer Faustformel wie dem Pareto-Prinzip zu leben. Nach einem Prinzip, das für mich grundsätzlich nicht passt und das für mich als bekennende Perfektionistin eher Stress bedeutet. Den Stress, die Dinge nicht so machen zu können, wie sie gut für mich sind. Und darauf kommt es schließlich an. Dass ich ein Leben lebe, was zu mir passt.

Klarheit, Aufmerksamkeit und Achtsamkeit sollten zusammenspielen, nicht gegeneinander. Wobei Klarheit und Aufmerksamkeit die natürliche Folge von achtsamem Handeln sind. Bin ich mir bewusst darüber, was genau ich alles mache und wieviel Zeit und Energie ich in meine Tätigkeiten stecke, dann erst kann ich beginnen mich zu fragen, ob all das, was ich mache, sinnvoll ist. Sinnvoll dahingehend, dass ich das Leben führen kann, was ich führen möchte.

Ich nehme mir immer mal wieder die Zeit, herauszufinden, was ich meinem Leben wichtig ist. Was jetzt wichtig ist und was vielleicht einmal eine Zeit lang nur zu 80 Prozent erledigt werden kann. Und was vielleicht einmal eine Bedeutung für mich hatte, mich nun aber nicht mehr trägt und das ich in Liebe weiterziehen lassen darf.

Und nun lade ich Dich dazu ein, Dir bewusst über die Dinge zu werden, die bei Dir zu tun oder aber auch zu lassen sind. Wirklich einmal in die Klarheit zu kommen über die Dinge, die Du machst, die Du machen möchtest und/oder machen solltest. Nichts mehr aufschieben, nichts mehr verdrängen. Sondern in die Klarheit kommen. Und erst dann zu entscheiden, was Du willst und Deinen ganz eigenen Weg zu gehen. Pareto hin oder her.