Den inneren Schweinehund an die Leine legen

Oft schimpfen wir darüber, dass wir uns fremdbestimmt fühlen. Der Chef oder die Chefin, der Partner oder die Partnerin, sie alle wollen, dass wir bestimmte Dinge tun oder auch lassen. Wir aber möchten selbst bestimmen. Und dann lassen wir uns trotz unserer gewünschten Selbstbestimmung von unserem eigenen inneren Schweinehund an der Nase herumführen.

Bei einem Vorgespräch zu einem Coaching ging es darum, wie schwer es ist, sich selbst zu organisieren. Mein zukünftiger Klient erzählte, dass er genug Zeit habe, sich die Arbeit bis zu einem Abgabetermin einzuteilen. Aber was machte er? Er verschwendete so viel davon, dass er zum Schluss immer in Stress kam. Stundenlang verbrachte er vor dem Fernseher, mit „Nichtstun“, mit „Herumtrödeln“.

Auch ich kenne das. Dieses Nichtstun. Oft, wenn ich während meiner Depression ins Leere gestarrt habe, bekam ich ein schlechtes Gewissen. „Du strengst dich sicher nicht genug an“, sagte meine innere Stimme. „Du musst aufstehen, etwas tun.“

Aber ich konnte es nicht. In einer Depression kann man so vieles nicht. Dazu gehört auch, dass man weiß, was zu tun ist, es aber (noch) nicht kann. Ich musste eine ganze Zeit lang mit dieser gefühlten Unfähigkeit, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen, leben.

Ganz langsam und für meine Verhältnisse im absoluten Zeitlupentempo bin ich dann doch aufgestanden und habe begonnen, etwas zu tun. Ich habe Veränderungen vorgenommen. Letztendlich habe ich fast alles verändert. Und das war gut so. Auch schwere Phasen gehen vorbei, wenn man sie wahrnimmt, akzeptiert und dann Schritt für Schritt weitergeht.

Selbst wenn sie gesund sind, nutzen viele Menschen ihre Zeit nicht und reflektieren nicht darüber, was gut und sinnvoll ist. Viele sind sozusagen gar nicht richtig „da“. Die Gedanken fließen so dahin und man denkt an dies oder an jenes. Mal denkt man dies, mal will man jenes. Und die inneren Stimmen diskutieren miteinander und obendrein bekommt man von der Werbung noch ganz andere Bedürfnisse suggeriert.

„Kauf dies, mach jenes, dann bist Du glücklich!“ oder „Wenn Du das nicht machst oder jenes eben nicht hast, dann wirst Du unglücklich.“ Oft kennen man es gar nicht anders, als eben genau so zu leben.

Die Folge für mich und viele andere Menschen ist: Wir handeln wie ferngesteuert. Oder wir kaufen etwas. Wie Hamster sind wir in unserem Rädchen unterwegs. Oder wir schieben das, was wir eigentlich tun sollten, auf und tun gar nichts. Oder wir haben lediglich die Absicht, etwas zu tun. Diese Liste ist endlos. Und wenn wir sie halbwegs abgearbeitet haben, erscheint eine neue Liste.

Es gibt aber eine Möglichkeit, das Leben wirklich zu leben. Das Beste ist, und das ist meine ganz persönliche Erfahrung, im Moment da zu sein, in dem das Leben stattfindet. Genau HIER, genau JETZT. GANZ da SEIN.

Aber leider sind wir oft nicht ganz da. Auch ich nicht. Wir „beschallen“ unser Leben mit fremden Eindrücken, mit fremden Geschichten. Wir schauen uns Serien an oder spielen Computerspiele. Oder schauen uns die Nachrichten an. Warum? Weil so viele das genauso machen. Weil wir nichts anderes gewohnt sind. Und weil es immer noch besser ist, festzustellen, dass es einem doch im Vergleich zu anderen eigentlich gar nicht so schlecht geht. Das hält uns dann auch davon ab, uns mit den eigenen Unzugänglichkeiten auseinander zu setzen.

Irgendwann kommt die Zeit, dass wir einen Termin, etwas was für uns wichtig ist, nicht mehr verdrängen und aufschieben können. Adrenalin kommt auf und wir setzen uns in Bewegung. Erst dann konzentrieren wir uns auf unsere Aufgabe, auf das, was zu tun ist. Erst legen wir langsam los, dann geben wir Gas. Auf einmal sind wir auf 180, hetzen durch die Welt, können kaum noch schlafen. Gesunde Ernährung und Bewegung geraten während einer solchen Phase völlig aus dem Blick.

Und wir schaffen das, was wir bei einer guten Zeiteinteilung ganz in Ruhe, unaufgeregt und mit voller Aufmerksamkeit sehr gut in Ruhe hätten erledigen können, in allerletzter Sekunde, gerade eben so und dazu noch mit maximalem Stress.

Tage, wochen- oder manchmal sogar monatelang schüttet der Körper Adrenalin und andere Stresshormone aus, um die Aufgabe doch noch hinzubekommen. Wenn das Ziel erreicht ist und der Körper die Hormone wieder abbauen muss, werden wir müde und je nachdem, wie lange diese Phase und der damit zusammenhängende Stress gedauert haben, werden wir sogar krank. Manchmal fallen wir in ein tiefes Loch, aus dem wir kaum wieder herauskommen. Wir hängen wieder irgendwie nur rum. Das geht genau so weiter bis zu einem neuen wichtigen Termin. Und wir beginnen wieder mit der Aufschieberei. Das Spiel beginnt von vorne.

Kommt Dir das bekannt vor? Dann bist Du damit nicht alleine. Wir haben es gar nicht gelernt, uns zu fragen „Was brauche ich jetzt wirklich?“ oder „Was ist jetzt gut für mich?“. Wenn wir lernen, uns diese Fragen zu stellen, dann kann es sein, dass wir in die Antwort dieser Fragen hineinleben. Wir können lernen, uns selbst anzuschauen und zu beobachten. Herausfinden, was wir brauchen. Was wir wirklich brauchen. Das ist am Anfang komisch, unbequem und befremdlich, aber es wirkt.

Wir können lernen, nicht auf unseren inneren Schweinehund zu hören, der uns auf dem Sofa halten will, weil es da draußen ja „sooooo ungemütlich, mega anstrengend und hochgradig gefährlich“ ist.

Übrigens sei an dieser Stelle angemerkt, dass es sich selbstverständlich auch um eine Schweinehündin handeln kann, aber der Einfachheit halber habe ich die männliche Form gewählt. Die Rüden mögen mir verzeihen!

Wenn wir unseren inneren Schweinehund beobachten, werden wir feststellen, dass er sich lieber verantwortungslos neben und mit uns auf dem Sofa räkeln möchte, anstatt in Bewegung zu kommen. Wir werden vielleicht feststellen, dass er noch nicht mal zum Gassi gehen das Sofa verlassen mag und dass er unsere Serien mindestens genauso mag wie wir selber. Haben wir die Führung tatsächlich unserem inneren Schweinehund überlassen? Wollen wir das?

Wollen wir uns und unser Leben wirklich jemand anderem überlassen?

Wollen wir uns und unser Leben wirklich von jemandem diktieren lassen, der nur rumhängt und der dafür sorgt, dass unser Leben an uns vorüberzieht?

Wenn wir das bemerken, dann haben wir den ersten Schritt in Richtung Veränderung schon gemacht. Und können anfangen, mit unserem inneren Schweinehund auf dem Sofa zu kuscheln. Und zwar zu Zeiten, die wir vorgeben. „Ok, süßer Schweini, wir kuscheln, wenn ich soundsoviel Zeit gearbeitet habe.“

Aller Anfang ist schwer und es ist nicht leicht, eingespielte Strukturen zu verändern. Aber auch innere Schweinehunde sind Wesen, die es verdient haben, respektiert zu werden. Wenn wir sie einfach verdrängen wollen, dann tauchen sie nur um so hartnäckiger immer wieder auf. Wie Wespen beim Essen von einem köstlichen Stück Pflaumenkuchen an einem lauen Sommernachmittag.

Also ist erst mal Kuscheln angesagt. Den inneren Schweinehund mit beiden Händen im Nackenfall nehmen und ihn durchrubbeln, mit ihm toben, ihn streicheln. Und ihn fragen: was brauchst Du? Und ihn antworten lassen. Ihm Zeit für die Antwort einräumen.

Häufig braucht er Aufmerksamkeit. „Ok, Du brauchst Aufmerksamkeit. Was genau?“ „Etwas Gutes zu Essen.“, sagt er dann vielleicht. Ooooh nein, er meint damit keine Chips, keine Süßigkeiten, sondern etwas Gesundes und Stärkendes. Etwas Nährendes ist dann angesagt.

Vielleicht einmal wieder etwas richtig Leckeres kochen? Vielleicht will er auch mal vor die Türe und sich bewegen? Neiiiin, das ganz sicher nicht, denn er möchte auf dem Sofa bleiben.

Gleichzeitig können wir anfangen, uns selber zu fragen, was wir brauchen. Wir brauchen gesunde Nahrungsmittel, um eine gute Leistung erbringen zu können und um erfolgreich zu sein. Und wir brauchen Bewegung. Und wir brauchen Freunde, die wohlwollend mit sich und anderen umgehen und die sich gegenseitig nicht dazu anstacheln, möglichst viel dieses kostbaren Lebens zu vergeuden.

Mit diesen Überlegungen können wir damit beginnen, unseren dicken, riesengroßen inneren Schweinehund vorsichtig an die Leine zu legen und mit ihm vor die Türe gehen.

Wir gönnen es uns, etwas Gutes zu essen zu besorgen. Diesen Weg legen wir ganz bewusst zu Fuß zurück. Und schon haben wir den ersten Schritt in ein gesundes und erfülltes Leben gemacht.

Und von da aus gehen wir immer wieder einen Schritt weiter.

Gemeinsam mit meinem vorher erwähnten Klienten habe ich genau diese ersten Schritte erarbeitet. Wir haben einen Plan erstellt, wie er von nun an weitergehen könnte. Mit seinem süßen Schweinehund an der Leine. Die beiden waren von dem Plan ganz begeistert und haben sich sofort in Bewegung gesetzt.

Bildquelle: „Grundlagen des RùJìng / der Meditation im QiGong“, QingBo Sui (2018), S. 25.  Es stammt von meinem QiGong-Lehrer Prof. QingBo Sui, dem ich herzlich für die Erlaubnis zur Veröffentlichung danke.